Tour de Suisse 15.09.-01.10.2006
Tag 1: Anreise & Prolog
Mit dem Zug einmal durch Deutschland. Im angehenden 21. Jhdt, Schlappe 169 Jahre nach Eröffnung der ersten Bahnstrecke mit Personentransport, kein Problem mehr - sollte man denken. Irrtum! Führt man ein Fahrrad mit, dann können die knapp 1000km von der Ostsee an den Bodensee zu einer kleinen Odysee werden.
Dabei beginnt alles eigentlich ganz harmlos. Am Kieler Hauptbahnhof rollt man zunächst unbehelligt die Rampe in die Bahnsteighalle hinauf. Anschließend dann eine erste kleine Hürde, die man mit etwas Erfahrung allerdings noch relativ einfach gemeistert bekommt. Die Türen des Fahrradabteils eines als moderner Nahverkehrsreisezug verkleideten maroden Silberlings sind eigentlich viel zu schmal, um ein Fahrrad nebst Fahrer gleichzeitig hindurchzuquetschen. Ich schaffe es trotzdem. Um 8:21 Uhr legt der RE 21011 Richtung Hamburg Hauptbahnhof ab, wo er um 9:37 Uhr wie gewohnt an Gleis 7a ankommt.
Am Hamburger Hauptbahnhof erlaubt sich die "DB Station & Service" wenn man ganz viel Glück hat dann einen besonderen Spaß: Renovierung der Aufzüge. Und zwar konsequenter Weise ALLER Aufzüge. Nun gut: man hat jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder man bringt Gepäck und Fahrrad nacheinander die Rolltreppe hoch und hat anschließend den Vorteil die geplante Tour um einige Kilogramm erleichtert in Angriff nehmen zu können und in den Genuss des Schlafens unter freiem Himmel zu kommen - oder man macht es so wie ich und fährt mit dem beladenen Fahrrad (ca. 15 km ausgerüstetet Rad + ca 35 kg Gepäck + ca 70 kg Fahrer = 120 kg zu beherrschendes Gesammtgewicht) Rolltreppe.
Ähnlich unbeugsam wie einst das allseits bekannte gallische Dorf streubt sich die Deutsche Bahn AG bis heute dagegen, in ICEs Fahrradabteile einzurichten. Infolgedessen habe ich mich für heute für den IC 2371 "Schwarzwald" entschieden, der um 10:15 uhr aus Richtung Stralsund kommend an Gleis 13 einrollt. Nach kurzem Aufenthalt, der ausreichend Zeit bietet, um in Ruhe einzusteigen, verlässt der Zug um 10.28 Uhr Hamburg Richtung Konstanz. Fahrer und Rad finden auf den reservierten Plätzen im Steuerwagen Platz und machen es sich dort erst einmal gemütlich, denn jetzt haben sie erst mal gaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanz viel Zeit. Das gute alte "Faltblatt Ihr Reiseplan" hat das handliche Format 23 cm x 106 cm. Die Fahrtroute von 2371 lautet inklusiver aller Kleinstädte in denen gehalten wird: Stralsund - Velgast - Ribnitz-Damgarten West-Rostock Hbf(erster Fahrtrichtungs-wechsel) - Bützow - Bad Kleinen - Schwerin Hbf - Hamburg Hbf (zweiter Fahrtrichtungswechsel) - Hamburg-Harburg - Lüneburg - Uelzen - Celle - Hannover Hbf - Alfeld(Leine) - Kreiensen - Northeim - Göttingen - Kassel-Wilhelmshöhe - Wabern(Bez Kassel) - Marburg(Lahn) - Gießen - Friedberg(Hess) - Frankfurt(Main) Hbf (dritter Fahrtrichtungswechsel) - Darmstadt Hbf - Bensheim - Weinheim(Bergstr) - Heidelberg Hbf - Bruchsal - Karlsruhe Hbf - Rastatt - Baden-Baden - Offenburg. Weiter geht es dann über die Schwarzwaldbahn, die fast so viele Halte wie tunnels bringt: Hausach - Hornberg (Schwarzw) - Triberg - St Georgen(Schwarzw) - Villingen(Schwarzw) - Donaueschingen - Singen(Hohentwiel) - Radolfzell - Konstanz. Nach exakt 13 Stunden Fahrtzeit hat der Zug dann 1214 km zurückgelegt (was einem rekordverdächtigen Durchschnitt von 93,4 km/h entspricht). Da ich erst in Hamburg einsteigen und schon in Singen wieder aus und somit auf die 299 km von Stralsund nach Hamburg so wie auf die 30 km von Singen nach Konstanz verzichte, sind es für mich somit 885 km in diesem Zug. Der ist dafür aber recht komfortabel und so lehne ich mich zurück und beobachte Mitreisende. Viele von ihnen führen ebenfalls ein Fahrrad mit. Einige freiwillig, andere wohl mehr, weil der Arzt es ihnen empf- bzw. befohlen hat. Die Schwarzwaldbahntrasse fährt der Zug Steuerwagenvoraus. Der Triebfahrzeugführer ist Ossi, was sich vor allem darin manifestiert, dass ihm die westdeutsche Spießigkeit uneigen ist; die Gardinen an der Glaswand zum Steuerabteil sind nicht zugezogen und sogar die Tür steht offen, was mich in den Genuss kommen lässt die Schwarzwaldbahn aus der Lokführerperspektive zu genießen. Der kleine Junge neben mir nutzt sogar seine kindliche Unbefangenheit und die Gelegenheit, sich einfach neben den Lokführer auf den Kopilotensessel im Fahrstand zu platzieren, was ebenfalls keinerlei Anstoß erregt. Im Gegenteil, der Tf scheint sogar erfreut zu sein, so etwas Unterhaltung zu haben. Beim Eintreffen in Singen ist es bereits dunkel. Ab nun geht es aus eigener Kraft weiter.
Das Ziel für den Abend ist der Campingplatz Langwiesen bei Schaffhausen. Nachdem ich den Bahnhof Singen verlassen habe, folge ich zunächst optimistisch der Beschilderung nach "alle Richtungen", in der Annahme, dass man damit nicht allzu viel verkehrt machen könne. Diese führt mich zunächst auf einer kleinen zweispurigen Straße aus der Innenstadt hinaus, dann werde ich auf eine 4-spurige Straße geleitet, die mich etwa 1 km später den Ortsausgang passieren lässt. Und dann ist Schluss. An einer Ampel endet der Traum von allen Richtungen. Verbot für Fahrräder. Jetzt gibt es 2 Möglichkeiten: Kleine Straße nach links oder kleine Straße nach rechts. Leider gibt es kein einziges Schild, was einen Anhaltspunkt bieten könnte, wohin es rechts oder links gehen könnte. Auch gibt es keine Umleitung für Fahrräder. Nach ca. 5 Minuten kommt ein Auto vorbei. Auf die Frage, wie ich mit dem Fahrrad nach Gottmadingen komme, antwortet die Fahrerin, dass ich doch einfach die Variante "links" wählen solle. Die Straße führe dann direkt nach Gottmadingen. Das Kennzeichen KO (für Landkreis Konstanz) suggeriert Ortskenntnis und so glaube ich ihr. Ca. 4 Minuten später erreiche ich... nicht Gottmadingen. Dafür aber einen Ort namens Rielasingen. Ich entschließe der Frau noch eine Chance zu geben und halte an der Kreuzung im Ort die Richtung. Nach dem Ortsausgangsschild taucht dann nach nur ca. 1 km urplötzlich und zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen unerwartet vor meinem Lenker... nein nicht Gottmadingen, dafür aber die hellerleuchtete Ausreise-Kontrollstelle des Grenzübergangs Rielasingen-Ramsen vor mir auf. Auch gut. Hier ist zwar nicht Gottmadingen, dafür die EU-Außengrenze und da wollte ich ja eigentlich sowieso hin. Ich zücke also meinen Personalausweis, was die Bundesgrenzschützer nach kurzem Warten aus ihrem Häuschen lockt. Da sie eigentlich nicht wirklich enthusiastisch kontrollieren, ich es aber irgendwie nicht einsehe, dass sie fürs Nichtstun bezahlt werden, frage ich sie noch nach dem besten Weg nach Schaffhausen. Sie empfehlen die Version runter zum Rhein und dann mehr oder weniger an selbigem entlang, da diese Route einigermaßen eben ist. Nach ca. 1 km Niemandsland erfolgt kurz später bei Ramsen die Einreise in die Schweiz. Weiter geht es dann nach Hermishofen. Davon hatte der Grenzschützer geredet. Aber wo ist die Rheinbrücke. Ich finde zum Glück zu dieser späten Stunde (es ist mittlerweile kurz nach 21 Uhr) einen Eingeborenen etwa meines Alters. Verdammt: er spricht nicht meine Sprache.... Mehr seinen Handbewegungen als den urtümlichen Lauten, die seinem Sprechapparat entweichen (ich glaube sie nennen das "Schwyzerdütsch"), entnehme ich, dass ich mich rechts halten soll, und in der Tat geht der Radweg dort eine Rampe zur Brücke hinauf. Linksrheinisch geht es flussabwärts, dann der Radwegbeschilderung folgend durch einen Wald, wo der Belag auf Schotter wechselt. Ich hoffe inständig, dass es sich um Qualitätsschotter handelt und nicht um so spitzes Zeug, was mit Gepäck fast zwangsläufig zu Plattfuß führt und bin gleichzeitig froh über meine frischen Mäntel, die dem zumindest noch ein bißchen etwas entgegenzusetzen hätten. Es geht aber gut. Kurz darauf erreiche ich Diessenhofen. Ich beschließe dort schon einmal Geld abzuheben, da ich so morgen entspannt den Campingplatz bezahlen kann, ohne vorher auf die schnelle einen Geldautomaten suchen zu müssen. Ich fahre 2 mal die Hauptstraße durch den historischen Ortskern und finde ... nichts. Nach Nachfrage werde dann aber doch ich fündig: Alle Banken des Ortes sind nicht im Ortskern, sondern etwas abseits im - nennen wir es einmal - Bahnhofsviertel versteckt. Ich glaube die nennen das hier "Bankgeheimnis". Ich wähle die Thurgauische Kantonalbank, da sich das auf dem Kontoauszug einfach cooler macht als "Raiffeisenbank Schaffhausen". Dann rolle ich die letzen 10 km zum Campingplatz. Dort ist sogar noch jemand da. Mein LED-Scheinwerfer leistet mir beim Aufbau gute Dienste. Um ca. halb elf mache ich es mir in meinem Schlafsack bequem. In der Nacht setzt Regen ein. weiter...